HGGS Peer Mentoring Georg-Lukács-Gedenktag in Heidelberg

Pressemitteilung von Hassan Maarfi Poor, Universität Heidelberg, und Dr. Rüdiger Dannemann, Vorsitzender der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft

Am Dienstag, dem 21. Oktober 2025, wurde die Stadt Heidelberg Zeugin eines historischen Tages, der dem Andenken und dem Leben eines der bedeutendsten Denker der Menschheitsgeschichte und herausragendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts gewidmet war.

Der „Georg Lukács-Tag“ begann mit der feierlichen Enthüllung einer Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus in der Keplerstraße 28, in dem Georg Lukács von 1914 bis 1918 lebte. Mehr als vierzig InteressentInnen und BewundrerInnen Lukács’ aus ganz Deutschland und dem Ausland nahmen daran teil. Diese Zeremonie war der Auftakt zu einem langen, in wissenschaftlicher wie kultureller Hinsicht fruchtbaren Tag. Zahlreiche JournalistInnen aus Heidelberg und von regionalen Zeitungen nahmen an der Veranstaltung teil und hielten diesen Tag mit vielen Fotos als ein Stück Stadtgeschichte fest.

Die Feier wurde von Hassan Maarfi Poor initiiert und organisiert. Nach der Enthüllung der Gedenktafel durch Maarfi Poor und Rüdiger Dannemann, dem Vorsitzenden der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft aus Essen, eröffnete Dannemann den Tag mit einem kurzen Vortrag über Lukács’ intellektuelle Biografie, dessen auch persönliche „transzendentale Obdachlosigkeit“ in seinem Heimatland und seiner Rolle in der Entwicklung des Denkens im 20. Jahrhundert, insbesondere in Heidelberg. Er schloss mit dem Hinweis auf die positive Wendung im Fall des geschlossenen Lukács Archivs und dem Verlesen einer E-Mail von Prof. Axel Honneth, der der Stadt Heidelberg für den Mut dankte, an den Aufenthalt von Georg Lukács an ihrer eigenen Universität zu erinnern.

Dr. Thomas Petersen, Dozent für Philosophie an der Universität Heidelberg und Betreuer der Dissertation von Maarfi Poor, hielt einen kurzen Vortrag über die Bedeutung von Geschichte und Klassenbewusstsein für die Studentenbewegung um 1968 und betonte, dass dieses Werk für die damalige Bewegung von zentraler Bedeutung war.

Danach sprach Michael Buselmeier, einer der bekanntesten Intellektuellen Heidelbergs, Autor zahlreicher Bücher über die Stadtgeschichte und ein wichtiger Vertreter des kulturellen Lebens der Stadt. Er hielt einen kurzen, teils kontroversen Vortrag über Lukács’ Rolle in Heidelberg. Buselmeier vertrat die Ansicht, dass andere Denker, die in diesem Haus gelebt hätten, für Heidelberg von größerer Bedeutung seien als Lukács. 

Daraufhin sprach Hassan Maarfi Poor über die Bedeutung dieses besonderen Tages und erläuterte das Tagesprogramm. Anschließend begann eine Stadtführung, bei der die Häuser wichtiger Intellektueller wie Alfred Weber und anderer Mitglieder des sogenannten Heidelberger Kreises um Max Weber, die in freundschaftlicher Beziehung zu Lukács standen, besucht wurden.

Von 13:00 bis 15:30 Uhr waren die Teilnehmenden zum Mittagessen eingeladen, danach setzte sich der Stadtrundgang fort. Die Gruppe besuchte unter anderem die Deutsche Bank, wo Lukács’ frühe Schriften über fünfzig Jahre lang in einem Tresor aufbewahrt worden waren. Anschließend bewegten sich die Teilnehmer durch die Heidelberger Hauptstraße zur Abendveranstaltung in der Philosophischen Fakultät, im Kant-Saal, der mit über siebzig BesucherInnen aus unterschiedlichsten sozialen und politischen Kreisen vollständig gefüllt war.

Da die Schriftstellerin und Dichterin Sara Ehsan die Moderation krankheitsbedingt nicht übernehmen konnte, übernahm Maarfi Poor selbst die Moderation der Veranstaltung und kürzte seinen eigenen Vortrag, um die Dauer der Sitzung im Rahmen zu halten.

Zunächst gab Maarfi Poor eine allgemeine Einführung über den „Georg Lukács-Tag“, den Ablauf des Programms sowie eine kurze Darstellung von Leben und Werk Lukács’. Er betonte, dass Lukács nicht nur einer der bedeutendsten Denker des vergangenen Jahrhunderts, sondern einer der wichtigsten Denker der gesamten Geistesgeschichte sei – ein Universalgelehrter, der Disziplinen wie Ästhetik, Kunstphilosophie, Soziologie, Geschichtstheorie, Politik, Marxismus und Ontologie mit außergewöhnlicher Tiefe erforschte. Maarfi Poor wies darauf hin, dass eine Rückkehr zu Lukács und eine „Lukács-Renaissance“ in einer Zeit, in der die Gefahr des Faschismus größer denn je sei, eine Grundlage für die Herausbildung eines antikapitalistischen und antifaschistischen Bewusstseins bilden könne – eines Bewusstseins, das sich, anders als die Frankfurter Schule, nicht mit den Machtstrukturen arrangiere, sondern zu einem Aufstand gegen die bürgerlichen Wissenschaften werde.

Am Abend fanden, wie angekündigt, vier Vorträge statt. Wegen Krankheit konnten jedoch zahlreiche ursprünglich vorgesehene TeilnehmerInnen nicht teilnehmen, sodass schließlich über zwanzig Gäste entschuldigt fehlten.

Der erste Vortrag kam von Rüdiger Dannemann, der Etappen und Leitmotive eines umstrittenen philosophischen Klassikers und dessen Aktualität skizzierte und dabei die Verbindung zwischen Verdinglichung und Entfremdung in Lukács’ frühem und spätem Werk hervorhob. Er betonte die zentrale Rolle dieser beiden Begriffe als charakteristische Merkmale des kapitalistischen Systems, das ohne Verdinglichung und Entfremdung nicht existieren könne. Dannemann zeigte, dass Lukács mit seiner Verdinglichungstheorie eine der großen Zeitdiagnosen des 20. Jahrhunderts vorgelegt habe und diese in seiner Ontologie des gesellschaftlichen Seins über Geschichte und Klassenbewusstsein hinaus zu einer Theorie pluraler Formen von Entfremdung und Verdinglichung weiterentwickelt habe. Aktualität besitze sein philosophischer Ansatz in vielerlei Hinsicht, vor allem als Artikulation einer kritischen Theorie, die diesen Namen tatsächlich verdiene, und dabei helfen könne, eine universalistische Perspektive für die Vielzahl der aktuell agierenden Widerstandsbewegungen zu entwickeln.

 Offene Forschungsfragen gebe es trotz der breiten Rezeption seines Werkes zuhauf, z.B.: Inwieweit lässt sich das in Geschichte und Klassenbewußtsein entwickelte Konzept des Klassenbewusstseins in die gegenwärtigen Debatten über Standortphilosophie, in Gender- und postkoloniale Studien integrieren. Oder: Welche neuen Perspektiven ergeben sich für neue Lektüren der klassischen deutschen Philosophie nach Kants und Marx‘ Verständnis von Philosophie.  Zudem wartet das Spätwerk auf eine Rezeption auf dem Niveau der früheren und mittleren Werkphase. 

Darauf folgte Peter König, emeritierter Philosophieprofessor an der Universität Heidelberg und eine bekannte Persönlichkeit der Stadt. Er sprach über Lukács’ Jugendwerke und betonte die Bedeutung der „Form“ – sowohl der Essayform als auch der Lebensform – in dieser Schaffensphase. König begann mit einem wichtigen Brief aus Lukács’ Werk Die Seele und die Formen, den dieser an seinen engen Freund Leo Popper schrieb, und setzte mit Überlegungen zu einem weiteren Essay über Kierkegaard und dessen Beziehung zu Regine Olsen fort. Er zeigte, wie Lukács in seiner Jugend romantische Themen in das Zentrum seines ästhetischen Systems stellte.

Im Anschluss sprach Thomas Petersen über Lukács’ Auffassung des Realismus im Zusammenhang mit Goethe und Thomas Mann. Mit einem Zitat aus Roger Scrutons Buch Fools, Frauds and Firebrands: Thinkers of the New Left kritisierte er die Opportunismus-Tendenzen der Frankfurter Schule. Thomas Petersen schreibt mit Bezugnahme auf Scrotun folgendes:

„Der konservative britische Philosoph Roger Scruton veröffentlicht ein Buch über die Denker der neuen Linken mit dem Titel „Fools, Frauds and Firebrands“. Polemisch wie der Titel sind auch die Kapitelüberschriften wie etwa „Resentment in Britain“, „Nonsense in Paris“ oder „Culture Wars Worldwide“. Auch Deutschland wird bedacht mit dem Kapitel „Tedium in Germany – Downhill to Habermas“. Jürgen Habermas, nach Scruton ein typischer „functionally perfect bureaucrat“ der Deutschen Linken, ist also die Endstation einer Talfahrt, bei der sich Theodor Adorno und Max Horkheimer auf halber Strecke finden. Doch wer ist der Gipfel, von dem aus es dann bergab geht? Das ist Georg Lukács, „the prime mover of the ‘Marxist humanism’ that was later to crystallize in the Frankfurt School”. Dieser “prime mover” konnte Lukács sein, weil er als erster eine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Kultur entwickelt hatte. Insbesondere zu einer Kritik der künstlerischen, speziell literarischen Produktion schien er prädestiniert, da er schon früh mit viel beachteten Arbeiten zur Ästhetik hervorgetreten war“ (Zitate aus Petersens Vortrag). 

Petersen geht weiter und schreibt: 

„Die Abhängigkeit der Frankfurter Schule der Kritischen Theorie von Lukács scheint mir richtig gesehen, ungeachtet der intensiven Feindschaft zwischen ihm und Adorno. Adorno hatte Lukács die ablehnende Haltung gegen die moderne Kunst verübelt und in einer heftigen Polemik gegen Lukács’ Buch “Wider den mißverstandenen Realismus“ dem Autor den Gebrauch reaktionärer bürgerlicher Kategorien wie „Dekadenz“ und eines „gänzlich unreflektierten Begriff[s] des Normalen“ vorgeworfen. „Auch der umschmeichelte Thomas Mann selbst“ sei „vor Lukács’ Neo-Naivetät“ „nicht gefeit“. Lukács wiederum hatte sich damit revanchiert, dass er die Frankfurter Schule als „Grandhotel Abgrund“ verspottete“.

Nach einer kurzen Pause von fünfzehn Minuten begann Hassan Maarfi Poor seinen Vortrag über Lukács und den Hegelianismus. Er gab einen Überblick über die verschiedenen Phasen, in denen Lukács sich mit Hegels Werk auseinandersetzte, und erklärte, dass Hegel für Lukács – wie dieser selbst schrieb – eine Art „begleitende Musik“ seines gesamten Schaffens war. Zwar habe Lukács bereits 1906 mit der Wiederlektüre Hegels begonnen, doch sein erster ernsthafter Beitrag dazu sei der Essay über Kierkegaard und Regine Olsen, in dem sich die Spuren der hegelschen Philosophie des Wesens und der Erscheinung deutlich erkennen ließen.

Der junge Lukács, hin- und hergerissen zwischen den Polen der damaligen geistigen Strömungen, versuchte durch eine Vertiefung des Hegelianismus und die Anwendung hegelscher Kategorien – insbesondere des Begriffs der Totalität – eine theoretische Antwort auf die „transzendentale Obdachlosigkeit“ seiner Epoche zu finden. Später betonte er jedoch, dass nicht die theoretische Auseinandersetzung zwischen Subjekt und Objekt, sondern die revolutionäre Praxis der Oktoberrevolution eine radikale Antwort auf diese Dialektik gegeben habe.

Maarfi Poor erläuterte sodann Lukács’ herausragende Rolle in der Hegel-Forschung während seiner Zeit in der Sowjetunion, insbesondere in seinem dritten Promotionswerk Der junge Hegel. Er betonte, dass dieses Werk in der Geschichte der Hegel-Studien einzigartig sei, da Lukács dort nicht nur die ökonomischen Schriften des jungen Hegels analysierte, sondern auch schwerwiegende Mängel in der bisherigen Hegel-Forschung – von Kuno Fischer bis zur Hegel-Renaissance um Dilthey – aufzeigte. Lukács zeigte, dass die Reduktion Hegels auf einen konservativen Staatsphilosophen nicht nur falsch, sondern reaktionär sei. Er sah in Hegels dialektischer Methode und seinen ökonomischen Analysen eine Perspektive jenseits der kapitalistischen Produktionsweise und betrachtete Hegel somit als einen der Vorläufer des marxistischen Denkens.

Zum Schluss zeigte Maarfi Poor, wie Lukács’ hegelsche Philosophie in seinen Überlegungen zu Realismus, Erzähltheorie, Ästhetik und Ontologie zum Tragen kam und wie er zwischen einer „echten“ und einer „falschen“ Hegelsche Ontologie unterschied.

Nach den Vorträgen entstand eine freundschaftliche und anregende Diskussionsatmosphäre. Zum Abschluss wurde bei Wein und kleinen Snacks ein Empfang abgehalten. Maarfi Poor dankte allen, die an der Organisation beteiligt waren – darunter dem Promotionsrat der Universität Heidelberg für die finanzielle Unterstützung, Dr. Astrid Wind von der HGGS, Farhad Sharifi für die englische Übersetzung und Redaktion der Texte sowie zahlreichen Professorinnen und Professoren, die Grußbotschaften geschickt hatten, darunter Prof. Norman Fischer, Prof. Andreas Arndt, Prof. Patrick Eiden-Offe, Michael Löwy, Prof. Regina Gagnier (University of Exeter, England), Sebastián Sánchez Renata (Costa Rica), Prof. Ateş Uslu (Universität Istanbul, er war sogar anwesend), Biswajit Dasgupta, Dr.Della Torre de Caruamo und viele weitere.

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